29.05.09: Eklat über Abstimmungsreihenfolge: Debatte und Schlussabstimmung über Patientenverfügungsgesetz verschoben
Die für den 28. Mai 2009 angekündigte Bundestagsdebatte mit abschließender Abstimmung über eine gesetzliche Absicherung von Patientenverfügungen, das sogenannte Patientenverfügungsgesetz wurde kurzfristig von der Tagesordnung genommen. Grund hierfür waren Streitigkeiten der Gesetzesinitiatoren über die Abstimmungsreihenfolge der vorliegenden Gesetzentwürfe und Anträge.
Aus Regierungskreisen hieß es, Joachim Stünker, Initiator einer der drei Gesetzentwürfe, habe gefordert, dass sein Gesetzentwurf als letzter zur Abstimmung käme, also erst nach einzelnen Abstimmungen über die Gesetzentwürfe der Gruppen Zöller/Faust und Bosbach/Röspel. Da kaum jemand mit einer Mehrheit für Zöller/Faust und Bosbach/Röspel rechnet, hätten so möglicherweise einige Unterstützer dieser Vorlagen nach deren Scheitern für Stünker gestimmt, mit der Begründung, damit wenigstens überhaupt eine gesetzliche Regelung zu bekommen. Auf diese Stimmen habe Stünker offenbar spekuliert, hieß es.
Diese von Stünker gewünschte Reihenfolge wäre jedoch sehr unüblich und gegen die Geschäftsordnung des Bundestages, denn normalerweise wird zuerst über die weitestgehende Vorlage abgestimmt. Das wäre nach vorherrschender Meinung der Stünker-Entwurf. Zweite Möglichkeit ist, die als erstes eingebrachte Vorlage als erste zur Abstimmung zu stellen. Auch das wäre die Vorlage von Stünker gewesen, da sein Gesetzentwurf im März 2008 eingebracht wurde. Die Entwürfe von Bosbach und Zöller kamen erst im Dezember letzten Jahres. Schließlich gäbe es noch die Variante, die Vorlage mit den meisten Unterzeichnern als erste zur Abstimmung zu stellen. Dies wäre mit 206 Unterzeichnern ebenfalls der Gesetzentwurf von Stünker.
Abstimmungsreihenfolge zu Patientenverfügungsgesetz: Durchschaubaren Kalküls von Stünker
Angesichts des durchschaubaren Kalküls von Stünker wollten die anderen Abgeordneten einer Ausnahmeregelung für eine geänderte Abstimmungsreihenfolge nicht zustimmen. Denkbar wäre eventuell noch eine Geschäftsordnungsabstimmung im Plenum gewesen, d. h. die Entscheidung über die Abstimmungsreihenfolge im Plenum zur Abstimmung zu stellen. Aber auch da würden wohl nur die, die dem Stünker-Entwurf zur Mehrheit verhelfen wollen, zustimmen – alle anderen dagegen, und Stünker könnte keine Mehrheit für seine Wunsch-Abstimmungsreihenfolge erwarten, so eine Einschätzung aus Unionskreisen.
Nach letzten Medienberichten haben sich die Parlamentarischen Geschäftsführer nun darauf geeinigten, das Thema Patientenverfügungen voraussichtlich am 18. Juni abschließend zu behandeln. Die Reihenfolge der Vorlagen bei der Abstimmung ist nach wie vor jedoch unklar. Sofern es zu keiner Einigung kommt, bliebe noch eine Sitzungswoche im Juli, andernfalls dürfte der Versuch, ein Patientenverfügungsgesetz zu verabschieden, endgültig auf längere Zeit gescheitert sein, da die Legislaturperiode im September zu Ende geht und nicht behandelte Gesetzentwürfe und Anträge damit verfallen.
Stimmen zur Absetzung der Patientenverfügungsdebatte
Die Bundesvorsitzende der Aktion Lebensrecht für Alle (ALfA), Dr. med. Claudia Kaminski, hat unterdessen die Absetzung der Debatte über ein Patientenverfügungsgesetz begrüßt. Aus Sicht der ALfA sei keiner der vorgelegten drei Gesetzentwürfe geeignet, den Lebensschutz am Ende des Lebens zuverlässig zu gewährleisten.
„Da zudem alle Gruppenentwürfe in der letzten Woche noch einmal eine Überarbeitung erfahren haben, hätte sich ohnehin die Frage gestellt, wie viele der Abgeordneten diese Änderungen noch mit der gebotenen Sorgfalt zur Kenntnis hätten nehmen können. Gerade bei Entscheidungen, die Fragen von Leben und Tod betreffen, muss grundsätzlich gelten: Besser kein Gesetz – als ein schlechtes und mit heißer Nadel geflicktes“, erklärte Kaminski in einer Pressemitteilung vom 28.05.09. Patientenverfügungen sind generell ein höchst zwiespältiges Instrument. Aus Sicht der ALfA sei deshalb Vorsorgevollmachten – wo immer möglich – auch der Vorzug zu geben. „Es ist bedauerlich, dass dieses Instrument in der Diskussion bislang nur wenig Beachtung findet“, kritisierte die Ärztin.
EKD: Vorerst auf gesetzliche Vorgaben zu verzichten
Auch die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) plädierte angesichts des andauernden Ringens um eine Regelung für Patientenverfügungen dafür, vorerst auf gesetzliche Vorgaben zu verzichten. „Es kann nicht darum gehen, ein Gesetz um jeden Preis zu verabschieden“, sagte der EKD-Ratsbevollmächtigte, Prälat Bernhard Felmberg, der „Rheinischen Post“ am 28.05.09.
Wenn die Mehrheit der Abgeordneten in keinem der vorliegenden Entwürfe die erforderliche Qualität gewährleistet sehe, dann solle von dem Vorhaben jetzt abgesehen werden. Ohnehin seien die Menschen, ob mit oder ohne Gesetz, nicht davon befreit, selbst Verantwortung zu übernehmen. Aufgabe der Kirchen sei es, in diesem Zusammenhang „gewissensbildend“ zu wirken. Die christliche Patientenverfügung der Evangelischen Kirche sei inzwischen bereits drei Millionen Mal angefordert worden.
Marburger Bund: Neuregelung der Patientenverfügung verzichtbar
Der Marburger Bund, der Verband der angestellten und beamteten Ärztinnen und Ärzte Deutschlands, hält ebenfalls eine Neuregelung der Patientenverfügung für verzichtbar. „Vielen Menschen in Deutschland ist allein durch die Debatten im Bundestag klar geworden, dass auch ohne ein neues Gesetz das informierte Einverständnis der Patienten Voraussetzung für jede ärztliche Intervention ist. Die Diskussionen im Deutschen Bundestag zum Thema Patientenversorgung wären folglich – auch ohne Gesetzesänderung – nicht vergeblich gewesen“, so Rudolf Henke, erster Vorsitzender des Marburger Bundes. Das geltende Recht enthalte bereits heute gute Möglichkeiten, um für Behandlungsentscheidungen vorzusorgen, die im Fall eigener Einwilligungsunfähigkeit getroffen werden müssen.
Die Deutsche Hospiz Stiftung dagegen beklagte, die Parlamentarier habe offenbar der Mut verlassen. „Die Leidtragenden des unerträglichen Hin und Hers sind die Millionen Menschen, die seit Jahren auf ein Patientenverfügungsgesetz warten“, so Eugen Brysch, Geschäftsführer der Deutschen Hospiz Stiftung. „Derzeit stecken Betroffene, Angehörige, Ärzte und Vormundschaftsrichter tief im ethischen und juristischen Treibsand. Daraus müssen sie endlich befreit werden“, forderte Brysch.
Es sei für die Menschen und den Rechtsfrieden unerträglich, dass Fragen der erlaubten Formen der Sterbehilfe in Deutschland höchst unterschiedliche richterliche Entscheidungen fallen. Es sei höchste Zeit, dass das „taktische Geplänkel ein Ende hat“, so Brysch. Die Deutsche Hospiz-Stiftung hat daher kurzfristig eine Kampagne gestartet, in dem die Bürger dazu aufgefordert werden, sich an ihre Wahlkreis-Abgeordneten zu wenden und ein Patientenverfügungsgesetz einzufordern.
Scharfe Kritik in den Medien
In den Medien wurde in Kommentaren die Absetzung der Debatte und Abstimmung über eine Patientenverfügungsregelung überwiegend scharf kritisiert. Hauptsächlich wurde den Abgeordneten vorgeworfen, unfähig zu sein, sich ihrer Verantwortung zu stellen. Der Palliativmediziner Gian Domenico Borasio erhob in der FAZ den Vorwurf, „die Politik versagt vor dem Sterben“. Die Süddeutsche Zeitung sprach von „peinlichem Geschacher“. Die Financial Times Deutschland erläuterte ausführlich, „wie der vorletzte Wille erstickt wird“. In Pressemitteilungen und Interviews schoben sich die Abgeordneten gegenseitig die Schuld für die jetzige Situation in der Debatte zu. Mehr dazu im Pressespiegel unten.
Weitere Informationen:
- Endphase in Patientenverfügungs-Debatte: Schlussabstimmung im Deutschen Bundestag am 28. Mai
Themenspecial vom 23.05.2009
- Stünker: Patientenverfügung noch ohne Rechtsgrundlage
SPD-Politiker fordert Rechtssicherheit für Patienten
Joachim Stünker im Gespräch mit Friedbert Meurer
DEUTSCHLANDFUNK 28.05.09
- „Zu gefährlich oder zu kompliziert“
Der CDU-Abgeordnete Hubert Hüppe fordert, auf eine gesetzliche Regelung für die Patientenverfügung ganz zu verzichten.
TAGESSPIEGEL 28.05.09
- Patientenverfügung: „Wir wollen Vertrauen zwischen Arzt und Patient“
Von Matthias Kamann
Obwohl sie jahrelang darüber beraten haben, können sich die im Bundestag vertretenen Parteien nicht auf einen Gesetzestext zur Patientenverfügung einigen. Auf WELT OLINE beschuldigt der CSU-Politiker Wolfgang Zöller Justizministerin Brigitte Zypries (SPD), die Angelegenheit weiter zu verzögern.
WELT Online 28.05.09