18.07.08: Zum 75. Jahrestag des NS-Erbgesundheitsgesetz: Humangenetiker-Gesellschaften räumen Verantwortung deutscher Wissenschaftler an NS-Verbrechen ein
Beim Internationalen Kongress für Genetik in Berlin hat die Deutsche Gesellschaft für Humangenetik (GfH) in einer Erklärung erstmals öffentlich die Verantwortung deutscher Wissenschaftler für den Massenmord an behinderten Menschen im Nationalsozialismus eingeräumt. Die Erklärung wird von der Deutschen Gesellschaft für Genetik (GfG) uneingeschränkt unterstützt und wurde beim Kongress am 14. Juli 2008 anlässlich des 75. Jahrestages der Verkündung des am 14. Juli 1933 in Berlin von der nationalsozialistischen Reichsregierung beschlossenen „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ veröffentlicht.
Laut offizieller Begründung des NS-Gesetzes hieß es damals als Ziel: „So soll die Unfruchtbarmachung eine allmähliche Reinigung des Volkskörpers und die Ausmerzung von krankhaften Erbanlagen bewirken.“ Entgegen der Aussage, das Gesetz sei „eine wahrhaft soziale Tat für die betroffenen erbkranken Familien“, habe es dem NS-Regime als Grundlage für eine systematische und gewalttätige Missachtung fundamentaler Menschenrechte gedient. Die wahren Motive lagen jedoch in der biologistischen Auslese-Ideologie, heißt es in der Erklärung. Die Verstümmelung von vermutlich etwa 400.000 Menschen durch Zwangssterilisationen, in deren Folge mehrere tausend von ihnen zu Tode kamen, sei der ersten Schritt einer staatlich gesteuerten Entrechtung behinderter Menschen in Deutschland gewesen, die wenige Jahre später in den Massenmord der „Euthanasieprogramme“ mündete.
„An der inhaltlichen Vorbereitung und pseudowissenschaftlichen Begründung dieses Gesetzes, sowie an der Ausführung der Zwangsmaßnahmen waren deutsche Ärzte und Wissenschaftler maßgeblich beteiligt. Durch den Missbrauch ihrer wissenschaftlichen Autorität und durch ihre Mitwirkung an der Formulierung und Ausführung des Gesetzes, unter anderem als Gutachter an den „Erbgesundheitsgerichten“, haben auch Humangenetiker schwere Schuld auf sich geladen“, heißt es in der Erklärung der beiden Gesellschaften.
Biologische Unsinnigkeit der Eugenik war offenkundig
Das Verhalten der Humangenetiker sei umso unverständlicher, als auch beim damaligen Kenntnisstand der Genetik die biologische Unsinnigkeit der Eugenik offenkundig war. So war nach Angaben der GfH beispielsweise schon 1908 von Godfrey Harold Hardy in Großbritannien und Wilhelm Weinberg in Deutschland mathematisch bewiesen worden, dass rezessive Krankheitsanlagen in jeder Population viel zu häufig sind, als dass sie mit eugenischen Maßnahmen aus dem Genbestand einer Population entfernt werden könnten.
Ebenso sei bekannt gewesen, dass viele der im Gesetz aufgeführten „Erbkrankheiten“, beispielsweise Alkoholismus, Epilepsie, Schizophrenie oder bipolare Psychosen, nur zum Teil genetisch bedingt sind und daher nicht Gegenstand eugenischer Maßnahmen sein konnten. „Dieses von falschen Prämissen ausgehende Gesetz ist daher auch ein historisches Dokument des Versagens von Wissenschaftlern“, so die beiden Gesellschaften.
Deutsche Humangenetik nach 1945 von personellen und ideologischen Kontinuitäten geprägt
Nach 1945 war die deutsche Humangenetik zunächst von personellen und ideologischen Kontinuitäten geprägt. Erst in den sechziger und siebziger Jahren und insbesondere mit der Gründung der Deutschen Gesellschaft für Humangenetik (GfH) 1989 habe sich ein bewusster Neubeginn mit einem Paradigmenwechsel des Faches vollzogen. Seither habe sich die Deutsche Gesellschaft für Humangenetik in mehreren Stellungnahmen, namentlich dem mehrfach aktualisierten Positionspapier der GfH nachdrücklich von jeder Form eugenischer Bestrebungen distanziert und „das Wohl des einzelnen Menschen und seiner Familie zum Maßstab ihrer Tätigkeit“ erklärt.
„Im Bewusstsein ihrer historischen Verantwortung bekennen sich die Mitglieder der Deutschen Gesellschaft für Humangenetik zu ihrer Verpflichtung, in ihrem ärztlichen und wissenschaftlichen Wirken wie auch im öffentlichen Diskurs für den Respekt vor allen Menschen in ihrer natürlichen genetischen Verschiedenheit einzutreten. Dies bedeutet insbesondere eine Absage an jede Form von Diskriminierung aufgrund ethnischer Merkmale oder aufgrund von genetisch bedingter Krankheit oder Behinderung“, heißt es. Medienberichten zufolge forderten die beiden Gesellschaften bei dem Kongress eine umfassende gesellschaftliche Debatte über vorgeburtliche Gendiagnostik.
Der 20. Internationale Kongress für Genetik tagte erstmals seit 1927 wieder in Deutschland. Zu der Versammlung wurden rund 2 000 Wissenschaftler aus aller Welt erwartet. Im Mittelpunkt des Kongresses vom 12.-17. Juli standen die neuesten Entwicklungen der Vererbungslehre bei Menschen, Tieren und Pflanzen, inklusive Stammzellforschung.
Ergänzende Informationen:
- Erklärung der Deutschen Gesellschaft für Humangenetik anlässlich des 75. Jahrestages der Verkündung des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“
14. Juli 2008 (2 Seiten, PDF-Format)
- Interview: Vor 75 Jahren wurde das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ verkündet
Am 14. Juli 1933 wurde das Gesetz zur Verhütung Erbkranken Nachwuchses erlassen – es war das erste Rassegesetz der Nazis.
Margret Hamm setzt sich auch heute gegen Sterbehilfe ein. Sie ist stellvertretende Vorsitzende und Geschäftsführerin vom „Bund der ‚Euthanasie‘-Geschädigten und Zwangssterilisierten e.V.“. Irina Grabowski sprach mit ihr.
INFORADIO 14.07.08
Anm.: Leider nicht mehr abrufbar 21.05.17