04.10.22: Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin e.V. (DGP) warnt: Flächendeckende Palliativversorgung in akuter Gefahr
Zweieinhalb Jahre nach Pandemie-Beginn beobachtet die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP) mit Sorge einen bundesweiten Rückgang der Anzahl an Palliativstationen nach über 25 Jahren stetigen Aufbaus. Die Situation in der ambulanten Palliativversorgung sei ebenfalls alarmierend. Dies teilte die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin e.V. (DGP) in einer Presseaussendung zur Eröffnung des 14. DGP-Kongresses in Bremen am 29.09.22 mit.
„Seit 2020 ist es zu Schließungen, strukturellen Verschiebungen und anderen Rückentwicklungen überwiegend infolge der Coronapandemie und des Personalnotstands gekommen“, so die Präsidentin der DGP, Prof. Dr. Claudia Bausewein von der LMU Klinikum München. „Gleichzeitig sind die ergänzenden multiprofessionellen spezialisierten Palliativdienste an Krankenhäusern längst nicht in dem im Hospiz- und Palliativgesetz vorgesehenen Maße auf- und ausgebaut worden. Grund dafür ist eine nach wie vor uneinheitliche und unsichere Finanzierungssituation“, gab Bausewein zu Bedenken.
Signifikante und anhaltende Defizite seit Corona-Pandemie
Auch der Vorstandsvorsitzender der Deutschen Krebshilfe, Gerd Nettekoven, warnte vor anhaltenden Versorgungsdefiziten. „Wir sehen die aktuellen Entwicklungen mit großer Sorge. Als Wegbereiterin der Palliativmedizin in Deutschland haben wir seit fast vier Jahrzehnten in hohem Maße zum Aufbau palliativmedizinischer Versorgungsstrukturen beigetragen und in die Aus- und Weiterbildung sowie Forschung investiert. Die Corona-Pandemie hat jedoch nachweislich zu signifikanten und anhaltenden Defiziten geführt“, so Nettekoven.
Diese Rückentwicklung stelle „eine Gefährdung der bisherigen Erfolge“ dar. „Es erscheint uns zwingend, dass die durch die Pandemie verursachten Probleme und auch der aktuelle Pflegenotstand gesundheitspolitisch ernst genommen werden und hier zeitnah gehandelt wird“, forderte Nettekoven.
Dringend Akademisierung der Pflege erforderlich
„Stagnation und Rückschritte sind ebenso im ambulanten Bereich alarmierend“, ergänzte Kongresspräsidentin Prof. Dr. Anne Letsch vom Universitätsklinikum Schleswig-Holstein in Kiel. „Für lebensbegrenzend erkrankte Menschen ist eine abgestimmte Koordination von Klinikaufenthalten und der Versorgung im Hospiz, Pflegeheim oder zuhause essentiell! Diese ist aktuell sehr erschwert“, warnte sie.
Das Leitmotiv des Kongresses „Palliativversorgung – Segeln hart am Wind“, zu dem sich rund tausend Teilnehmende in Bremen und weitere 300 Besucher:innen bundesweit an ihren Bildschirmen zusammengefunden hatten, spiegelte dem Bericht zufolge außerdem weitere Grenzerfahrungen und Herausforderungen in der Palliativversorgung wieder.
Kongresspräsidentin Prof. Dr. Henrikje Stanze von der Hochschule Bremen, erläuterte dies an einem zentralen Punkt. „Der qualitative und quantitative Anspruch steigt, wir benötigen dringend eine Akademisierung in der Pflege und entsprechende Stellen in der Praxis, damit die Pflege für sich selbst sprechen und argumentieren kann. Dies auch, um den Pflegenotstand von Seiten der Pflege aktiv zu bekämpfen.“
Die Pflegefachkräfte nähmen im Palliativteam eine wesentliche Rolle ein. Sie seien häufig den schwerkranken Menschen und ihren Angehörigen sehr nah und wüssten um Bedarfe und Bedürfnisse. Dadurch sei ihre Einschätzung im interprofessionellen Teamaustausch besonders wichtig.
Zentrale Fragen: Wer braucht welche Palliativversorgung? Was kann die Telemedizin beitragen?
Hier komme als weiterer Schwerpunkt des Kongresses die Digitalisierung ins Spiel, so Kongresspräsident Prof. Dr. Christian Junghanß von der Universitätsmedizin Rostock. Zwei grundlegende Fragen wurden aus unterschiedlichen Perspektiven in den Blick genommen: „Wie kann die Verknappung von Personal durch digitale Angebote kompensiert werden? Wie können schwerkranke Patient:innen auch mit Hilfe der Telemedizin gut versorgt werden?“ Die Digitalisierung sei ebenso für das Kongressformat bedeutsam, da etwa ein Viertel der Teilnehmenden die drei Kongresstage allein über den Bildschirm miterlebten.
Der Kongress bot der Mitteilung zufolge Antworten aus Klinik und Forschung auf zahlreiche Fragenkomplexe, aus denen Kongresspräsidentin Prof. Dr. Anne Letsch die Frage herausgriff: Wer braucht welche Palliativversorgung? „Bei knapper werdenden Ressourcen ist es essentiell Kriterien zu definieren, wer und wann allgemeine oder spezialisierte Palliativversorgung benötigt“, so Letsch.
Konkret: „Welche Behandlungsstandards müssen gelten? Wie kann der Bedarf von schwerkranken Patient:innen und ihren Angehörigen eingeschätzt und erfüllt werden? Wieviel Forschung darf oder sollte sein? Und: Was können wir von den schwerkranken Menschen, ihren Familien und den Palliativteams lernen für den Umgang mit anderen, neuen Krisen des Lebens?“
Neue DGP-Kampagne „Das ist palliativ“ will Ängste nehmen
Die fachlich dichten Kongresstage waren eingebettet in das abwechslungsreiche Rahmenprogramm der „Bremer Woche der Palliativmedizin“, welche Interessierten bis zum 3. Oktober über diverse Formate eine Annäherung an den Umgang mit lebensbegrenzenden Erkrankungen ermöglichte.
„Wir müssen die Auseinandersetzung mit den Themen Sterben, Tod und Trauer in der Öffentlichkeit aktiv unterstützen. Sterben gehört zum Leben und der frühzeitige Zugang zur Palliativversorgung fördert die Symptomlinderung und Lebensqualität bei einer chronischen unheilbaren Krankheit“, betonte DGP-Präsidentin Bausewein abschließend. Ergänzend verwies sie auf die aktuelle Informations- und Aufklärungskampagne der wissenschaftlichen Fachgesellschaft: www.dasistpalliativ.de.
Über die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin e.V. (DGP)
Die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin e.V. (DGP) steht als wissenschaftliche Fachgesellschaft für die interdisziplinäre und multiprofessionelle Vernetzung. Ihre mehr als 6.000 Mitglieder aus Medizin, Pflege und weiteren Berufsgruppen engagieren sich für eine umfassende Palliativ- und Hospizversorgung in enger Zusammenarbeit mit allen Beteiligten.
Im Zentrum steht die bestmögliche medizinische, pflege-rische, psychosoziale und spirituelle Behandlung und Begleitung schwerstkranker und sterbender Men-schen sowie ihrer Angehörigen. Gemeinsames Ziel ist es, für weitgehende Linderung der Symptome und Verbesserung der Lebensqualität zu sorgen – in welchem Umfeld auch immer Betroffene dies wünschen.
Weitere Informationen:
Webseite zum 14. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin