Symbolbild Sterbehilfe

04.07.19: BGH-Urteil : Freisprüche in 2 Fällen ärztlich assistierter Selbsttötungen bestätigt

04.07.19: Richtungsweisendes BGH-Urteil – Freisprüche in zwei Fällen ärztlich assistierter Selbsttötungen bestätigt

BGH-Urteil: Eingang Bundesgerichtshof EmpfangsgebäudeDas Landgericht Hamburg und das Landgericht Berlin haben jeweils einen angeklagten Arzt von dem Vorwurf freigesprochen, sich in den Jahren 2012 bzw. 2013 durch die Unterstützung von Selbsttötungen sowie das Unterlassen von Maßnahmen zur Rettung der bewusstlosen Suizidentinnen wegen Tötungsdelikten und unterlassener Hilfeleistung strafbar gemacht zu haben. Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs (BGH) hat die Revisionen der Staatsanwaltschaft in zwei Urteilen vom 3. Juli 2019 verworfen und damit die beiden freisprechenden Urteile bestätigt. Die Landgerichtsurteile sind damit rechtskräftig.

Hamburger Verfahren

Wie der BGH in einer Presseaussendung zu den Fällen ausführte, litten nach den Feststellungen im Urteil des Landgerichts Hamburg die beiden miteinander befreundeten, 85 und 81 Jahre alten suizidwilligen Frauen an mehreren nicht lebensbedrohlichen, aber ihre Lebensqualität und persönlichen Handlungsmöglichkeiten zunehmend einschränkenden Krankheiten. Sie wandten sich Mitte 2012 an den Sterbehilfeverein des ehemaligen Hamburger Justizsenators Roger Kusch.

Der Verein machte seine Unterstützung bei ihrer Selbsttötung von der Erstattung eines neurologisch-psychiatrischen Gutachtens zu ihrer Einsichts- und Urteilsfähigkeit abhängig. Das Gutachten erstellte der Angeklagte, ein Facharzt für Neurologie und Psychiatrie. Er hatte an der Festigkeit und Wohlerwogenheit der Suizidwünsche keine Zweifel. Auf Verlangen der beiden Frauen war der Angeklagte bei der Einnahme der tödlich wirkenden Medikamente anwesend und unterließ es auf ihren ausdrücklichen Wunsch, nach Eintritt ihrer Bewusstlosigkeit Rettungsmaßnahmen einzuleiten.

Das Landgericht Hamburg hat den Angeklagten aus rechtlichen und tatsächlichen Gründen freigesprochen. Beide Frauen hätten die alleinige Tatherrschaft über die Herbeiführung ihres Todes gehabt. Der Angeklagte sei aufgrund der ihm bekannten Freiverantwortlichkeit der Suizide auch nicht zu ihrer Rettung verpflichtet gewesen. Anhaltspunkte für eine nach Einnahme der Medikamente eingetretene Änderung des Willens der beiden Frauen konnte das Landgericht nicht feststellen.

Berliner Verfahren

Gemäß den Feststellungen im Urteil des Landgerichts Berlin hatte der Angeklagte als Hausarzt einer Patientin Zugang zu einem in hoher Dosierung tödlich wirkenden Medikament verschafft. Die 44-jährige Frau litt seit ihrer Jugend an einer nicht lebensbedrohlichen, aber starke krampfartige Schmerzen verursachenden Erkrankung. Die Frau hatte den Angeklagten um Hilfe beim Sterben gebeten, nachdem sie bereits mehrere Selbsttötungsversuche unternommen hatte. Der Angeklagte betreute die nach Einnahme des Medikaments Bewusstlose, wie von ihr zuvor gewünscht, während ihres zweieinhalb Tage dauernden Sterbens. Hilfe zur Rettung ihres Lebens leistete er nicht.

Das Landgericht Berlin hat den Angeklagten aus rechtlichen Gründen freigesprochen. Die Bereitstellung der Medikamente stelle sich als straflose Beihilfe zur eigenverantwortlichen Selbsttötung dar. Zu Rettungsbemühungen nach Eintritt der Bewusstlosigkeit sei er nicht verpflichtet gewesen. Denn die freiverantwortliche Ausübung des Selbstbestimmungsrechts der Verstorbenen habe eine Pflicht des Angeklagten zur Abwendung ihres Todes entfallen lassen.

Entscheidung des Bundesgerichtshofs

In seinen aktuellen Urteilen (5 StR 132/18 und 5 StR 393/18) hat der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs die Revisionen der Staatsanwaltschaft nun verworfen und damit die beiden freisprechenden Urteile bestätigt.

„Eine strafrechtliche Verantwortlichkeit der Angeklagten für ihre im Vorfeld geleisteten Beiträge zu den Suiziden hätte vorausgesetzt, dass die Frauen nicht in der Lage waren, einen freiverantwortlichen Selbsttötungswillen zu bilden. In beiden Fällen haben die Landgerichte rechtsfehlerfrei keine die Eigenveranwortlichkeit der Suizidentinnen einschränkenden Umstände festgestellt. Deren Sterbewünsche beruhten vielmehr auf einer im Laufe der Zeit entwickelten, bilanzierenden „Lebensmüdigkeit“ und waren nicht Ergebnis psychischer Störungen“, heißt es in der Pressemitteilung zur Begründung.

Beide Angeklagte seien nach Eintritt der Bewusstlosigkeit der Suizidentinnen auch nicht zur Rettung ihrer Leben verpflichtet gewesen. „Der Angeklagte des Hamburger Verfahrens hatte schon nicht die ärztliche Behandlung der beiden sterbewilligen Frauen übernommen, was ihn zu lebensrettenden Maßnahmen hätte verpflichten können. Auch die Erstellung des seitens des Sterbehilfevereins für die Erbringung der Suizidhilfe geforderten Gutachtens sowie die vereinbarte Sterbebegleitung begründeten keine Schutzpflicht für deren Leben. Der Angeklagte im Berliner Verfahren war jedenfalls durch die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts der später Verstorbenen von der aufgrund seiner Stellung als behandelnder Hausarzt grundsätzlich bestehenden Pflicht zur Rettung des Lebens seiner Patientin entbunden“, so die Richter.

Hilfspflicht nach § 323c StGB nicht in strafbarer Weise verletzt worden

Eine in Unglücksfällen jedermann obliegende Hilfspflicht nach § 323c StGB sei nicht in strafbarer Weise verletzt worden. „Da die Suizide, wie die Angeklagten wussten, sich jeweils als Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts der sterbewilligen Frauen darstellten, waren Rettungsmaßnahmen entgegen deren Willen nicht geboten.“

„Am Straftatbestand der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung (§ 217 StGB) war das Verhalten der Angeklagten wegen des strafrechtlichen Rückwirkungsverbotes nicht zu messen, da dieser zur Zeit der Suizide noch nicht in Kraft war“, betonte der Bundesgerichtshof. Dass die Angeklagten mit der jeweiligen Leistung von Hilfe zur Selbsttötung möglicherweise ärztliche Berufspflichten verletzt haben, sei für die Strafbarkeit ihres Verhaltens im Ergebnis nicht von Relevanz.

Ergänzende Informationen zum BGH-Urteil:

Nachfolgend die vom BGH genannten Vorschriften: §§ 212, 216, 323c, 13, 22, 23, 25 StGB

Die maßgeblichen Vorschriften lauten:

§ 216 Tötung auf Verlangen

(1) Ist jemand durch das ausdrückliche und ernstliche Verlangen des Getöteten zur Tötung bestimmt worden, so ist auf Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu erkennen.

(2) Der Versuch ist strafbar.

§ 323c Unterlassene Hilfeleistung; Behinderung von hilfeleistenden Personen

(1) Wer bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not nicht Hilfe leistet, obwohl dies erforderlich und ihm den Umständen nach zuzumuten, insbesondere ohne erhebliche eigene Gefahr und ohne Verletzung anderer wichtiger Pflichten möglich ist, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft.

(2) Ebenso wird bestraft, wer in diesen Situationen eine Person behindert, die einem Dritten Hilfe leistet oder leisten will.


Stimmen zum BGH-Urteil zum ärztlich assisterten Suizid

Der neue Präsident der Bundesärztekammer Dr. Klaus Reinhardt nahm das BGH-Urteil zur Unterstützung bei Selbsttötungen mit gemischten Gefühlen auf. „Die Bundesärztekammer wird die rechtlichen Aspekte und Implikationen des heutigen Urteils eingehend prüfen und gemeinsam mit den Landesärztekammern beraten“, erklärte Reinhardt in einer Pressemitteilung vom 03.07.19.

„Die dem BGH-Urteil zu Grunde liegenden Fälle zeigen, wie wichtig es war, dass der Gesetzgeber im Jahr 2015 die geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung unter Strafe gestellt hat.“ Dies gelte insbesondere für den Hamburger Fall aus dem Jahr 2012. „Beide Suizidentinnen waren nicht lebensbedrohlich erkrankt, wurden aber von einem Sterbehilfeverein beim Sterben unterstützt. Auch im Fall des Landgerichts Berlin aus dem Jahr 2013 litt die suizidwillige Patientin an einer schweren, aber nicht lebensbedrohlichen Erkrankung. Dennoch hatte der angeklagte Hausarzt seiner Patientin Zugang zu einem Medikament verschafft, nach dessen Einnahme sie verstarb“, kritisierte der BÄK-Präsident.

Beteiligung an Selbsttötungen keine ärztliche Aufgabe

Betont werden müsse, dass die Beteiligung an Selbsttötungen nicht zu den ärztlichen Aufgaben zählt. „Es ist vielmehr Aufgabe von Ärzten, das Leben zu erhalten, Leiden zu lindern und Sterbenden Beistand zu leisten. Daher sollten ärztliche Handlungen auf eine lebensorientierte Behandlung abzielen und Leiden durch eine geeignete schmerzmedizinische Versorgung lindern.“

Gerade die Palliativmedizin stelle eine adäquate Form der ärztlichen Sterbebegleitung dar. „Wir brauchen auch genügend Zeit für Zuwendung und seelischen Beistand, um so den Menschen mit schweren Erkrankungen Zukunftsängste zu nehmen. Dafür müssen wir die notwendigen Einrichtungen und Strukturen schaffen. Das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, der wir uns alle stellen müssen“, betonte Reinhardt.

„Es wäre hingegen fatal, wenn in der Bevölkerung Erwartungen geweckt werden, die auf einen regelhaften Anspruch auf ärztliche Assistenz beim Suizid gerichtet sind. Daher ist und bleibt es richtig, wenn Handlungen zur geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung strafbar sind.“

Marburger Bund: Beistand und Fürsorge statt Hilfe zur Selbsttötung

Auch der Erste Vorsitzende des Marburger Bundes, Rudolf Henke, kritisierte in einem Statement, das Urteil des Bundesgerichtshofs zum ärztlich unterstützten Suizid löse keine Probleme, sondern schaffe neue. Der Widerspruch zu den berufsrechtlichen Pflichten der Ärztinnen und Ärzte sei evident.

„Wenn wir Ärztinnen und Ärzte in unseren Grundsätzen von Sterbebegleitung sprechen, meinen wir Beistand und Fürsorge für Menschen, die den Tod vor Augen haben. Sterbebegleitung kann und darf aber keine Hilfe zur Selbsttötung sein. Unsere ärztliche Aufgabe ist es, Leben zu erhalten und Leiden zu lindern. Die Mitwirkung an der Selbsttötung ist keine solche ärztliche Aufgabe. Unsere Berufsordnung lässt daran keinen Zweifel: Ärztinnen und Ärzte dürfen keine Hilfe zur Selbsttötung leisten“, stellte Henke klar.

Das Selbstbestimmungsrecht von Patienten sei zu achten. Es gebe aber Grenzen ärztlichen Handelns, die sich aus ihrem beruflichen Selbstverständnis ergeben. Es mache eben einen Unterschied, ob ein Angehöriger Beihilfe zur Selbsttötung leistet oder ein Arzt, der dem Patienten nicht nahesteht. „Ich fürchte auch, dass eine schleichende Legalisierung des ärztlich begleiteten Suizids, wie sie im Urteil des BGH zum Ausdruck kommt, sehr problematische Signale in die Gesellschaft sendet. Wer alt und krank ist, darf nicht auf den Gedanken kommen, er würde anderen zur Last fallen, um dann den vermeintlichen Ausweg Suizid zu wählen. Das wäre eine verheerende Entwicklung“, so Henke.

Ärzte müssen Auswege aus der seelischen Not aufzeigen

Er glaube auch, es sei für Ärzte nahezu unmöglich, richtig einzuschätzen, ob der Sterbewunsch eines Patienten endgültig ist. „Ärztinnen und Ärzte sind gefordert, Menschen Wege aufzeigen, wie ein Weiterleben gelingen kann, wie Schmerzen besser kontrolliert werden können, wie mehr gesellschaftliche Teilhabe wieder erfahren werden kann. Ich erwarte von ärztlichen Kollegen, dass sie nicht einfach den Sterbewunsch als gegeben hinnehmen und lediglich prüfen, ob er aus freien Stücken erfolgt. Ich erwarte, dass Ärzte Auswege aus der seelischen Not aufzeigen, die sich häufig hinter einem Sterbewunsch verbirgt“, sagte der Marburger Bund-Vorsitzende abschließend.

Der Marburger Bund ist die gewerkschaftliche, gesundheits- und berufspolitische Interessenvertretung aller angestellten und beamteten Ärztinnen und Ärzte in Deutschland.

Lob vom Sterbehilfe-Verein

Allein der Sterbehilfeverein von Kusch lobte das BGH-Urteil. Er bezeichnete in einer Presseerklärung vom selben Tag den Richterspruch als „eine für das Selbstbestimmungsrecht epochale Abkehr von der „Wittig“- bzw. „Peterle“-Entscheidung aus dem Jahre 1984“. Damals habe der Bundesgerichtshof entschieden, dass der Sterbehelfer zur Lebensrettung verpflichtet ist, sobald der Suizident bewusstlos geworden ist. Für seinen Verein habe die „Peterle“-Entscheidung bedeutet, dass der Sterbehelfer den Suizidenten verlassen musste, bevor dieser bewusstlos wurde.

„Mit dieser unwürdigen Situation ist nun Schluss. Sterbehelfer dürfen künftig beim Sterbenden bleiben, weil dessen Sterbewunsch auch nach Eintritt der Bewusstlosigkeit beachtlich bleibt.“ Mit der Entscheidung habe der Bundesgerichtshof „eine jahrzehntelange Rechtsunsicherheit beseitigt“.

Pressestimmen zum BGH-Urteil

Ärzte müssen sterbewilligen Patienten nicht das Leben retten
Darf ein Arzt seinen Patienten beim Suizid begleiten? Der Bundesgerichtshof hat grundsätzliche Fragen geklärt.
TAGESSPIEGEL 03.07.19

Ärzte dürfen Patienten sterben lassen
Zwei Ärzte standen vor Gericht, weil sie Patienten auf deren eigenen Wunsch hin sterben ließen. Nun sprach der Bundesgerichtshof die Mediziner frei. Das Urteil gilt als wegweisend für die Sterbehilfe.
SPIEGEL 03.07.19

Ärzte müssen sterbewillige Menschen nicht gegen deren Willen retten
AERZTEBLATT.DE 03.07.19

Urteil zu Sterbehilfe ruft unterschiedliche Reaktionen hervor
AERZTEBLATT.DE 04.07.19

Themenrubrik Debatte um ein Verbot der Suizidbeihilfe

Rubrik Aktuelles