27.06.10: Bundesgerichtshof fällt richtungsweisendes Urteil zur Sterbehilfe

Der Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe hat am 25. Juni sein abschließendes Urteil zu grundsätzlichen Fragen der Sterbehilfe gefällt. Demnach ist der Abbruch einer lebenserhaltenden Behandlung nicht strafbar, wenn ein entsprechender klarer Patientenwille vorliegt, entschieden die Richter. In diesem Fall könne nicht nur ein Behandlungsabbruch durch bloßes Unterlassen weiterer Ernährung, sondern auch durch „aktives Tun“ wie etwa der Entfernung einer Nahrungssonde gerechtfertigt sein.

Der BGH hob damit die Verurteilung des Medizinrechtlers Wolfgang Putz wegen versuchten Totschlags auf und sprach ihn frei. Das Urteil könnte nun weitreichende Folgen für nichteinwilligungsfähige Schwerkranke, insbesondere Komapatienten haben.

Zum Hintergrund des Urteils

Die Verhandlung vor dem BGH fand bereits am 2. Juni 2010 statt. Dabei ging es in dem Verfahren um die Revision des Münchner Rechtsanwalts für Medizinrecht Wolfgang Putz (59), der im April 2009 vom Landgericht Fulda wegen aktiver Sterbehilfe zu neun Monaten Haft auf Bewährung verurteilt worden war (siehe das Themenspecial vom 04.06.2010 unten).

Putz hatte 2007 Frau G., der Tochter der seit 2002 in einem Pflegeheim im Wachkoma liegenden 76-jährigen Frau K. geraten, den Schlauch für die Magensonde durchzuschneiden, um ihr so den mutmaßlichen Wunsch nach einem Sterben in Würde zu ermöglichen. Die Mutter habe der Tochter kurz bevor sie ins Wachkoma fiel, mündlich mitgeteilt, dass sie im Ernstfall keine lebensverlängernden Maßnahmen durch künstliche Ernährung wolle.

Die Durchsetzung des Willens der Mutter und die Einstellung der Nahrungszufuhr scheiterte zuvor am Widerstand der Heimleitung. Eine Besserung ihres Gesundheitszustandes sei nicht mehr zu erwarten gewesen. Daher schnitt die Tochter schließlich den Schlauch wie angeraten durch. Nachdem das Heimpersonal dies bereits nach einigen Minuten entdeckt und die Heimleitung die Polizei eingeschaltet hatte, wurde Frau K. auf Anordnung eines Staatsanwalts gegen den Willen ihrer Kinder in ein Krankenhaus gebracht, wo ihr eine neue Magensonde gelegt und die künstliche Ernährung wieder aufgenommen wurde. Sie starb dort zwei Wochen darauf eines natürlichen Todes auf Grund ihrer Erkrankungen.

Landgericht Fulda: Handeln des Angeklagten gemeinschaftlich begangener versuchter Totschlag durch aktives Tun

Das Landgericht Fulda wertete im anschließenden Prozess das Handeln des Angeklagten als einen gemeinschaftlich mit Frau G. begangenen versuchten Totschlag durch aktives Tun – im Gegensatz zum bloßen Abbruch einer lebenserhaltenden Behandlung durch Unterlassen, der weder durch eine mutmaßliche Einwilligung von Frau K. noch nach den Grundsätzen der Nothilfe oder des rechtfertigenden Notstandes gerechtfertigt sei.

Auch auf einen entschuldigenden Notstand könne sich der Angeklagte nicht berufen. Soweit er sich in einem sog. Erlaubnisirrtum befunden habe, sei dieser für ihn als einschlägig spezialisierten Rechtsanwalt vermeidbar gewesen. Die Mitangeklagte hat das Landgericht schließlich am 30. April 2009 freigesprochen, weil sie sich angesichts des Rechtsrats des Angeklagten in einem unvermeidbaren Erlaubnisirrtum befunden und deshalb ohne Schuld gehandelt habe.

Zur Urteilsbegründung

Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat das Urteil auf die Revision des Angeklagten nun aufgehoben und ihn freigesprochen. Zu Klären war in der Verhandlung die Frage, unter welchen Voraussetzungen in Fällen aktueller Einwilligungsunfähigkeit von einem bindenden Patientenwillen auszugehen ist. Dies war zur Tatzeit durch miteinander nicht ohne weiteres vereinbare Entscheidungen des Bundesgerichtshofs noch nicht geklärt, so die Richter in einer Pressemitteilung.

Divergenzen in der Rechtsprechung betrafen die Verbindlichkeit von Patientenverfügungen und die Frage, ob die Zulässigkeit des Abbruchs einer lebenserhaltenden Behandlung auf tödliche und irreversibel verlaufende Erkrankungen des Patienten beschränkt oder von Art und Stadium der Erkrankung unabhängig ist, daneben auch das Erfordernis der gerichtlichen Genehmigung einer Entscheidung des gesetzlichen Betreuers über eine solche Maßnahme. Der Gesetzgeber hat diese Fragen durch das sogenannte. Patientenverfügungsgesetz mit Wirkung vom 1. September 2009 ausdrücklich geregelt. Der Senat konnte daher entscheiden, ohne an frühere Entscheidungen anderer Senate gebunden zu sein.

Das Landgericht sei im Ergebnis zutreffend davon ausgegangen, dass die zuvor durch einen Kompromiss mit der Heimleitung getroffene Entscheidung zum Unterlassen weiterer künstlicher Ernährung rechtmäßig war und dass die von der Heimleitung angekündigte Wiederaufnahme als rechtswidriger Angriff gegen das Selbstbestimmungsrecht der Patientin gewertet werden konnte. Die im September 2002 geäußerte Einwilligung der Patientin, die ihre Betreuer geprüft und bestätigt hatten, habe bindende Wirkung entfaltete und stellte sowohl nach dem seit dem 1. September 2009 als auch nach dem zur Tatzeit geltenden Recht eine Rechtfertigung des Behandlungsabbruchs dar. Dies gelte jetzt unabhängig von Art und Stadium der Erkrankung, wie inzwischen § 1901 a Abs. 3 BGB ausdrücklich bestimmt.

Aktives Tun gerechtfertigt

Dagegen trifft nach Auffassung des BGH die Bewertung des Landgerichts nicht zu, der Angeklagte habe sich durch seine Mitwirkung an der aktiven Verhinderung der Wiederaufnahme der Ernährung wegen versuchten Totschlags strafbar gemacht. Die von den Betreuern – in Übereinstimmung auch mit den inzwischen in Kraft getretenen Regelungen der Paragrafen 1901 a, 1904 BGB – geprüfte Einwilligung der Patientin habe nicht nur den Behandlungsabbruch durch bloßes Unterlassen weiterer Ernährung gerechtfertigt, sondern auch ein aktives Tun, das der Beendigung oder Verhinderung einer von ihr nicht oder nicht mehr gewollten Behandlung diente.

„Eine nur an den Äußerlichkeiten von Tun oder Unterlassen orientierte Unterscheidung der straflosen Sterbehilfe vom strafbaren Töten des Patienten wird dem sachlichen Unterschied zwischen der auf eine Lebensbeendigung gerichteten Tötung und Verhaltensweisen nicht gerecht, die dem krankheitsbedingten Sterbenlassen mit Einwilligung des Betroffenen seinen Lauf lassen“, so die Richter abschließend. Der genaue Wortlaut der Urteilsbegründung war bis Redaktionsschluss noch nicht abrufbar.


Reaktionen auf Bundesgerichtshofurteil zur Sterbehilfe: Nachbesserungen am Patientenverfügungsgesetz gefordert

Die Reaktionen auf das BGH-Urteil zur Sterbhilfe fielen bei Ärzteschaft, Politik- und Kirchenvertretern, Lebensrechtsverbänden und in den Medien erwartungsgemäß zwiespältig aus.

Der Präsident der Bundesärztekammer, Prof. Dr. Jörg-Dietrich Hoppe, erklärte, der vor dem Bundesgerichtshof verhandelte Fall zeige einmal mehr, dass Probleme am Ende des Lebens nicht mit dem Strafrecht gelöst werden können sondern nur, indem man alle Beteiligten zusammenbringt und gemeinsam zu einer Entscheidung kommt. Auch müssten Tötung auf Verlangen und Sterbebegleitung scharf voneinander abgegrenzt werden.

„Für uns Ärzte ist es selbstverständlich, dass wir todkranken Patienten beistehen und versuchen das Leiden dieser Menschen zu mindern. So gibt es Situationen, in denen sonst angemessene Diagnostik und Therapieverfahren nicht mehr angezeigt und Begrenzungen geboten sein können. Dann tritt palliativ-medizinische Versorgung in den Vordergrund. Das aber ist keine Hilfe zum Sterben, sondern Sterbebegleitung. Es gehört zu den Pflichten von uns Ärzten, einen offensichtlichen Sterbevorgang nicht durch lebenserhaltende Therapien künstlich in die Länge zu ziehen“, erklärte Hoppe. Zudem betonte er insbesondere mit Blick auf Wachkomapatienten, dass die Ärzteschaft mit den „Grundsätzen der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung“ jeder Form aktiver Sterbehilfe eine klare Absage erteilt habe.

Bundesjustizministerin: Entscheidung schafft Rechtssicherheit

Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) erklärte, die Entscheidung schaffe Rechtssicherheit bei einer grundlegenden Frage im Spannungsfeld zwischen zulässiger passiver und verbotener aktiver Sterbehilfe. Es gehe dabei um „das Selbstbestimmungsrecht des Menschen und damit um eine Kernfrage menschenwürdigen Lebens bis zuletzt.“ Mit dem aktuellen Urteil habe der Bundesgerichtshof dem Selbstbestimmungsrecht des Menschen zu Recht einen besonders hohen Stellenwert eingeräumt.

„Das Selbstbestimmungsrecht ist Ausfluss der durch das Grundgesetz geschützten Würde eines jeden Menschen – auch des Sterbenden. Die heutige Entscheidung stellt klar: Der freiverantwortlich gefasste Wille des Menschen muss in allen Lebenslagen beachtet werden. Es gibt keine Zwangsbehandlung gegen den Willen des Menschen“, so die Justizministerin.

Niemand mache sich strafbar, der dem explizit geäußerten oder dem klar festgestellten mutmaßlichen Willen des Patienten, auf lebensverlängernde Maßnahmen zu verzichten, Beachtung schenkt. Das mit dem Urteil abgeschlossene Verfahren mache daher auch die Bedeutung von Patientenverfügungen deutlich. Der Deutsche Bundestag habe dazu im vergangenen Jahr eine wegweisende Entscheidung getroffen.

Forderungen nach Nachbesserungen am Patientenverfügungsgesetz

Der Geschäftsführende Vorstand der Patientenschutzorganisation Deutsche Hospiz Stiftung, Eugen Brysch, gab zu bedenken, dass trotz Freispruch nicht alles, was straflos bleibt, auch geboten ist. „Ein spektakulärer Prozess für den Rechtsanwalt, ein schwarzer Tag für die Schwerstkranken in Deutschland“, sagte Brysch. „Anstatt in Wild-West-Manier die Magensonde kappen zu lassen, hätte der Anwalt frühzeitig den Gerichtsweg beschreiten müssen“, ist er der Auffassung. So hätten Zweifel am Willen der schwerstkranken Frau geklärt werden können.

„Über allem muss der Wille des Patienten stehen. Diesen Kern hat der Bundesgerichtshof leider nicht erkannt. Das Urteil sendet ein fatales Signal aus, dass dem Grundrecht Schwerstkranker auf Selbstbestimmung und Fürsorge nicht Gerecht wird. Ohne Patientenverfügung dürfen lebenserhaltende Maßnahmen nur eingestellt werden, wenn der Betroffene früher glasklar gesagt hat, was er will und was nicht. Wenn zur Ermittlung des Patientenwillens aber wie in diesem Fall ein beiläufiges Vieraugengespräch ohne Zeugen ausreicht, ist dem Missbrauch Tür und Tor geöffnet“, warnte Brysch.

Die Deutsche Hospiz Stiftung fordert den Gesetzgeber deshalb auf, unverzüglich zu handeln und dringend notwendige Nachbesserungen am Patientenverfügungsgesetz durchzuführen. „Es ist genau festzuschreiben, dass bei der Ermittlung des mutmaßlichen Willens mehrere, dem Patienten nahestehende Menschen zu befragen sind. Aus den Aussagen, die sorgsam zu dokumentieren sind, muss sich ein einheitliches Bild ergeben“, fordert Brysch. Alles andere setze schutzbedürftigen Menschen einer unverantwortlichen Gefahr aus. Mutmaßungen anderer über den tatsächlichen Willen des Betroffenen dürften nicht tödlich sein.

ALfA: Das Gesetz ist das eigentliche Problem

Auch die Bundesvorsitzende der Aktion Lebensrecht für Alle (ALfA) e.V., Dr. Claudia Kaminski, forderte das am 1. September 2009 in Kraft getretene Patientenverfügungsgesetz zu überarbeiten. Das mache das Urteil des Bundesgerichtshofs ganz deutlich. „Die Richter haben auf Basis des geltenden Rechts entschieden. Daher ist nicht das Urteil, sondern das Gesetz das eigentliche Problem“, erklärte Kaminski in einer Pressemitteilung vom 25. Juni 2010.

Als „überaus problematisch“ bezeichnete sie, „dass die nicht überprüfbare Behauptung eines einzelnen, ein inzwischen bewusstloser Patient habe ihm gegenüber mündlich erklärt, keine lebenserhaltende Maßnahmen zu wünschen, Ärzte verpflichten solle, Maßnahmen zu unterlassen, die sie als Fachleute für medizinisch indiziert halten. Damit wird dem Missbrauch Tür und Tor geöffnet“, warnte Kaminski.

„Es ist richtig, dass Ärzte Patienten nicht gegen ihren Willen behandeln dürfen. Aber wenn dieser Wille nicht zweifelsfrei festgestellt werden kann, dann darf der Arzt nicht zum ausführenden Organ des Willens Dritter degradiert werden“, so die Ärztin. Das BGH-Urteil zeige, dass der Deutsche Bundestag damals besser beraten gewesen wäre, kein Gesetz zu verabschieden, als eines, das derartige Mängel aufweist und zudem der behaupteten Zielsetzung, die Autonomie des Patienten zu stärken, entgegenwirkt.

Gemischte Reaktionen der Kirchen auf das Sterbehilfe-Urteil

Bei den beiden großen Kirchen in Deutschland fielen die Stellungnahmen zum Urteil etwas gegensätzlich aus. Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) begrüßte, dass durch das Urteil des Bundesgerichtshofes (BGH) das Recht des Patienten auf die Umsetzung seines Willens gestärkt werde. Zugleich trage diese Entscheidung zu einer größeren Rechtssicherheit bei Ärzten, Pflegepersonal und Angehörigen bei. Nach Auffassung der christlichen Ethik gebe es keine Verpflichtung des Menschen zur Lebensverlängerung um jeden Preis und auch kein ethisches Gebot, die therapeutischen Möglichkeiten der Medizin bis zum Letzten auszuschöpfen.

„Demgegenüber ist und bleibt die gezielte Tötung eines Menschen in der letzten Lebensphase aus christlicher Sicht ethisch nicht vertretbar, auch wenn sie auf seinen ausdrücklichen Wunsch hin erfolgt. Gesetzliche Regelungen und gesellschaftliche Konventionen, die der Tötung auf Verlangen oder der Beihilfe zur Selbsttötung den Weg ebnen, sind ein Irrweg, den die christlichen Kirchen entschieden ablehnen“, so die EKD in einer Pressemitteilung.

In einer ersten Stellungnahme der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) kamen von katholischer Seite erhebliche Bedenken zu den Folgen. „Inmitten einer immer schwieriger werdenden Situation, die vor allem durch eine hochtechnisierte Medizin und ein differenziertes Recht bestimmt wird, ist für die katholische Kirche die grundlegende Unterscheidung zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe maßgebend. Sie ist eine unentbehrliche ethische Entscheidungshilfe und scheint uns in dem Urteil nicht genügend berücksichtigt zu sein. Wir fürchten durch diese Verunklarung sensible ethische Folgeprobleme“, so die DBK. Es sei nun „eine sehr sorgfältige und differenzierte Analyse der Urteilsbegründung notwendig, die bis jetzt nicht vorliegt.“

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